Wachsende Städte, neue Agglomerationen: Wie gelingt die lebendige Gemeinde?
Zehn Gemeinden haben in der Schweiz neu mehr als 10’000 Einwohner. Damit haben 172 Gemeinden den Rang einer Stadt. Was bedeutet das für deren Lebensqualität, und was für deren umschliessende Agglomerationen? Fünf Handlungsfelder aus Sicht der Nutzer:innen.
Der Begriff von der «Nachhaltigen Gemeinde» macht in vielen Foren gerade (wieder) die Runde. Das ist angesichts der neuesten Zahlen aus dem Bundesamt für Statistik keine Überraschung: So haben zwischen den Jahren 2010 und 2020 zehn neue Gemeinden den statistischen Status einer Stadt erlangt. In der gleichen Zeit sind auch drei neue Agglomerationen erwachsen – interessant sind dabei insbesondere Reinach (AG) und Mels-Sargans (SG). Denn die beiden zeigen verdeutlichen, wie die Schweiz im Mittelland weiter zusammen wächst.
Wird das Schweizer Mittelland aber endgültig zum städtischen Gürtel, stellen sich die gerade für die Agglomerationen dringende Fragen, was deren Identität ist, was ihre Lebensqualität ausmacht oder wie die Politik die überkommunalen Probleme angeht. Hier tun sich aus Sicht der Nutzer:innen denn auch die ersten Handlungsfelder auf. Der letzte Punkt wird das am Beispiel der überkommunalen Entwicklung am Beispiel von Mels-Sargans deutlich.
Mit «Mels-Sargans» (3293)wächst das obere Rheintal in Richtung Glarus (1630) und ostwärts nach Chur (3901).
((Quelle: Karte Seite 4, Medienmitteilung Bundesamt für Statistik, 21. März 2023))
Mit den aktuellen Zahlen wohnen rund 74 Prozent der Schweizer Bevölkerung in einer von den neu 52 Agglomerationen. Interessant ist, dass auch in diesen selbst die Verstädterung voranschreitet. So sind die Kernstädte weiter gewachsen, während die Bevölkerung im umliegenden Ring insgesamt konstant geblieben ist.
Anders zeigt sich die Situation auf dem Land. So wohnen hier gerade noch 14 Prozent der Bevölkerung. Trotzdem machen sie weiterhin knapp 50 Prozent aller Gemeinden aus und das auf knapp 60 Prozent der Fläche. Trotzdem wächst auch das Land, wie die interaktive Karte auf dem Online-Magazin Watson eindrücklich zeigt (für Artikel auf Karte klicken): Blau sind alle Gemeinden, die zwischen 2013 und 2023 gewachsen sind.
Lebendige Gemeinde – was das nachhaltige Konzept leistet
Eine nachhaltige Gemeinde entwickelt sich in allen Bereichen ausgewogen – und nicht zulasten einem einzigen Bereich. Diese Bereiche sind Gesellschaft, Umwelt und Wirtschaft. Sie werden oft auch als Säulen der Nachhaltigkeit beschrieben und gelten allgemein – also sowohl für städtische als auch für ländliche Gemeinden.
Auf Bundesebene werden heute dazu die 17 Ziele der nachhaltigen Entwicklung verwendet, die von der UNO im Jahr 2012 für die Agenda 2023 verabschiedet worden sind. Sie umfassen sowohl Energie, Wirtschaft oder auch den Zugang zu Bildung und Gesundheit. Obwohl diese als universeller Leitfaden entwickelt worden sind, können diese gut auf die lokalen Verhältnisse adaptiert werden.
Die Kriterien wurden an der Klimakonferenz «Rio+20» entwickelt. 20 Jahre nach der ersten Erklärung von 1992 wurde der universelle Leitfaden präsentiert. Das ist kein Zufall: Denn nicht nur der Klimawandel ist eine Herausforderung für alle Länder, sondern auch die Entwicklung der Bevölkerung oder der Zugang zu Technologie. So ist es denn gerade auch ein Kernanliegen bei Regiosuisse, die Digitalisierung für die Entwicklung zu nutzen.
Kriterien als Rahmen für lokale Konzepte
Der universelle Anspruch ist eine Stärke des Konzepts. So nutzt es der Bund für sein Monitoring der nachhaltigen Entwicklung (Monet 2030). Der Praxisfokus zeigt sich auch daran, dass diese Kriterien auch von Regiosuisse adaptiert worden sind. Dieses Programm richtet sich an insbesondere an ländliche Regionen und deren nachhaltige Entwicklung und zeigt, wie flexibel das Konzept zu adaptieren ist. Aber auch viele städtische Kompasse der Nachhaltigkeit stützen sich darauf. Das Konzept ist also gut auf die jeweiligen Bedürfnisse anwendbar. Wenn diese Kriterien aber auf die lokalen Verhältnisse angepasst werden müssen, was bedeutet das aus Sicht der Bewohner:innen, des Gewerbes oder für die Entwicklung der nötigen Infrastruktur insgesamt?
Gemeinden im Perspektivenwechsel entwickeln
Die Gemeinden stehen vor vielfältigen Herausforderungen. Diese zeichnen sich oft dadurch aus, dass viele verschiedene Ansprüche eingelöst werden müssen. Das zeigt sich gut in Nutzungskonzepten für Pärke oder Plätze. So soll nicht nur die Infrastruktur gut unterhalten werden können, es gilt auch Konflikte in der Nutzung zu adaptieren. Neben rechtlichen Anforderungen kommt ein weiterer Punkt hinzu, der durch die Dynamik der gesellschaftlichen und technologischen Veränderungen kritisch ist: die Zeit. So ist es sinnvoll, grosse Entwicklungen in kleineren Etappen zu realisieren. Ansonsten droht, dass auch ein einfacher Veloweg gut zehn Jahre dauern kann, bis er realisiert werden kann – eine leidvolle Erfahrung, die sich jede Gemeinde gerne erspart.
Fünf Handlungsfelder der lebendigen Gemeinde
Wohl ist für alle Gemeinden das Wohnen ein wichtiges Thema, insbesondere auch mit der nötigen Innenverdichtung. Aber auch die Freizeitangebote, der Schulraum oder die alternde Bevölkerung stehen vielerorts ganz oben auf der Agenda. Werden hier die Bewohner:innen oder das Gewerbe frühzeitig einbezogen, können die eigenen Projekte mit breiter Akzeptanz vorangetrieben werden. Werden diese fünf Handlungsfelder berücksichtigt, fliessen die lokalen Bedürfnisse in ein Projekt ein – sei es bei einem neuen Projekt oder auch der Umnutzung:
Handlungsfeld 1
Nutzungskonflikte umgehen
Der öffentliche wie der private Raum ist begrenzt. Dabei sind den Gemeinden seit 2010 mit der BZO klare Rahmenbedingungen gesetzt. Gleichzeitig bringt die Individualisierung der Gesellschaft komplexe Ansprüchen an ein Projekt mit sich. Unabhängig davon, ob es sich um die Nutzung von Strassen, einem neuen Schulhaus oder dem Planen von Pärken oder Plätzen geht, ist es für Gemeinden sinnvoll, die verschiedenen Anspruchsgruppen frühzeitig einzubeziehen.
Handlungsfeld 2
Design für und mit Nutzer:innen
ukünftigen Nutzer:innen bekannt, ist ihr Einbezug auch im Design der zukünftigen Nutzung sinnvoll. So entstehen heute an vielen Orten Pump Tracks, wo früher vielleicht auch mal ein Basketball- oder Fussballfeld entstanden wäre. Gleichzeitig sind es oftmals auch nur kleine Verbesserungen, die sich die Nutzer:innen wünschen – sei es ein Sonnenschutz bei einer Parkbank oder eine Grillstelle.
Handlungsfeld 3
Dynamik adaptieren
Die Bedürfnisse der Menschen entwickeln sich mit einer immer grösseren Dynamik. Deshalb kann es sinnvoll sein, bestehende Angebote nach fünf oder zehn Jahren wieder einmal zu bewerten: sei es über Nutzungsanalysen, Befragungen oder interaktiven Formaten vor Ort.
Handlungsfeld 4
Digitalisierung einbeziehen
Die Menschen sind sich je länger, je mehr gewohnt, dass sie sich online informieren, vernetzen und auch Angebote buchen können. Wieso also nicht die Möglichkeiten nutzen, die die Digitalisierung bringt? So lässt es sich bereits heute via App zum Grillplausch abmachen und kann – wenn gewünscht – gleich den Grillplatz oder ein Spielfeld reservieren.
Handlungsfeld 5
Bewohner:innen vernetzen
Was in der überkommunalen Arbeit auf verschiedenen Ebenen bereits vielfach Realität ist (siehe Region «Sarganserland» im Beispiel oben), fehlt auf der lokalen und nachbarschaftlichen Ebene weitgehend. Da hat sich auch mit dem Ende von Corona noch wenig getan, obwohl gerade da sehr gut sichtbar war, wie wichtig eine gute Nachbarschaft ist. Allerdings kommen solche Initiativen erst dann zum tragen, wenn diese auch gestützt werden.
Fazit – für ein Wachstum mit Identität
Die Schweizer Städte wachsen – und mit diesen auch ihre Agglomerationen. Damit diese nicht zu anonymen Wohnorten werden, braucht es Investitionen in ihre Identität. Damit sich diese auch entwickeln können, braucht es den Einbezug der Bewohner:innen. Dazu gehört es, niederschwellige Kontakt- und Informationsangebote zu machen, welche alle relevanten Stakeholder abholt. Werden diese thematisch oder projektspezifisch mit den Fachpersonen der Gemeinden vernetzt, ist die Basis gelegt, damit die zukünftige Entwicklung zur lebendigen Gemeinde auch gelingt. Das braucht weniger Geld als den Mut, sich gemeinsam auf den Weg zu machen.
Fotos:
Sargans: Foto von Sandro Widrig auf Unsplash
Bellinzona: Foto von Patrizia Berta auf Unsplash